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Musizieren - aber bitte enigmatisch

Rätsel, die in der Musik auftauchen, werden als Enigma bezeichnet.

Jeder, der gerne Rätsel löst, wäre verärgert, wenn im beim Lösen des Rätsels jemand zur Seite tritt und ihm die Lösung ungefragt steckt.

Beim Musizieren nun haben wir einen Notentext vor uns, und am Anfang fragen wir uns, wie das, was wir hier schwarz auf weiß vor uns sehen, sich wohl anhören mag, wenn wir es auf unserem Instrument spielen. Spielen wir dann die ersten Takte des Musikstückes, stellt sich vielfach ein großes Aha-Erlebnis ein, vergleichbar etwa dem, das man empfindet, wenn man die ersten Seiten eines spannenden Buches liest.

Apropos Buch: wer würde schon gerne den Film zum Buch anschauen, bevor er das Buch selbst gelesen hat?

In der Musikwelt gibt es jedoch heutzutage eine Tendenz, die genau in diese Richtung weist: das Angebot des Marktes suggeriert, dass man beim Musizieren mit einem Notentext allein nicht hinlänglich ausgestattet ist. Nein, die Notenausgabe muss zusätzlich noch eine Klangvorlage in Gestalt einer CD liefern und, wem das noch nicht reicht, der bekommt auch noch ein Erklärvideo als DVD mitgeliefert. Wer dann noch Fragen hat, schaut sich bei einer online-Plattform um.

Dies ist schön und gut, aber wird hierdurch die Musik nicht komplett enträtselt und auch ein wenig ihres Zaubers beraubt? Werden wir als Musiker dadurch nicht irgendwie herabgestuft zu Wesen, die sich darauf beschränken sollen, zuvor Gehörtes lediglich papageienartig nachzuplappern, anstatt es in seiner Tiefe  verstehen zu wollen? Sollte man als Musiker nicht den Anspruch haben, sich auch ohne Einsatz solcher Hilfsmittel eine Klangvorstellung zu erarbeiten?

Ich finde schon: Kopfrechnen lernt man schließlich auch nicht mit dem Taschenrechner.